Ways of Seeing Abstraction:
Yto Barrada, Autocar – Tangier, 2004

Abstraktion, darunter verstehen die meisten Menschen noch immer eine Konzentration auf die Form. Eine Kunststr�mung, mit der �sthetische Ideen, Ordnungen, philosophische Ideen oder innere Gef�hle zum Ausdruck gebracht werden k�nnen – die aber mit der allt�glichen Lebenswirklichkeit nicht viel zu tun hat. Doch gerade in von Krisen gekennzeichneten Zeiten werden auch von der Kunst Relevanz und Dringlichkeit erwartet, eine Aussage zu aktuellen gesellschaftlichen Themen. K�nstlerisches Engagement vermittelt sich dabei heute nicht ausschlie�lich durch klare visuelle Botschaften und Inhalte – sondern immer mehr auch durch die Abstraktion. Gerade f�r j�ngere Generationen ist die gegenstandslose Kunst das Mittel der Wahl, um Politik, Religion oder soziale Fragen zu thematisieren. Mit Werken aus der Sammlung Deutsche Bank unternimmt die Ausstellung „Ways of Seeing Abstraction“ im PalaisPopulaire eine durchaus subjektive Bestandsaufnahme der internationalen Abstraktion von der Nachkriegsmoderne bis in die j�ngste Gegenwart – und dokumentiert die Vielfalt und Diskursivit�t, die sich hinter der Idee der gegenstandslosen, „reinen“ Form verbirgt. Anl�sslich der Schau zeigen wir Ihnen in unserer Serie Arbeiten von K�nstler*innen, die Abstraktion eigenwillig nutzen und auf neue Weise definieren.


Yto Barrada, Autocar – Tangier, Fig. 3, 4, 2, 2004
� Yto Barrada and Sfeir-Semler Gallery, Hamburg / Beirut


Yto Barradas Fotografien wirken wie abstrakte Kompositionen der Farbfeldmalerei und des Minimalismus der 1960er-Jahre, vielleicht auch der Pop Art: leuchtende monochrome Farben, geometrische und dynamische Formen, die von vertikalen und horizontalen Linien durchbrochen werden. Auch die n�chternen, seriell durchnummerierten Titel der einzelnen Bilder aus der Autocar-Serie klingen, als stammten sie aus der US-Kunst dieser Zeit. Doch sie bezeichnen genau das, was man sieht: Logos auf Bussen, die von Nordafrika aus verschiedene St�dte in Europa ansteuern. Die abstrakten Formen helfen Analphabet*innen, die einzelnen Buslinien zu unterscheiden. Auf diesen Routen reisen immer wieder auch Passagier*innen mit, die auf diese Weise nach Europa fl�chten wollen. Barrada hat sie, wie auch die Busfahrer, im Rahmen der Arbeit an ihrer Serie interviewt.

Doch es geht der franz�sisch-marokkanischen K�nstlerin, die heute in New York lebt, nicht ausschlie�lich um Migration: Barrada thematisiert den kulturellen Transfer von Zeichen und Formen. Die westliche Moderne, von der bildenden Kunst bis zu Design und Architektur, hat sich reichlich an den klaren Geometrien und leuchtenden Farben in der Kunst afrikanischer L�nder bedient. Dass uns Logos auf marokkanischen Bussen heute an westliche Kunst erinnern, hat sehr viel mit unserer kolonialistischen Perspektive und der Vereinnahmung nichteurop�ischer Kunststile zu tun.