Ich finde in allem Heiligkeit:
Ein Interview mit Yifat Bezalel

Yifat Bezalel vereint in ihrer Kunst die unterschiedlichsten Sph�ren: Mystik und Popkultur, Feminismus und Religiosit�t. Vor allem aber reflektiert sie in ihren Zeichnungen ihre vielschichtige Identit�t: als globale K�nstlerin und moderne Israelin, die aktuellen politische Konflikte reflektiert – und als J�din, die auch jahrtausendealten biblischen Traditionen verpflichtet ist. Mit ihren Arbeiten ist Bezalel auch in der Sammlung Deutsche Bank vertreten. Britta F�rber, Kuratorin der Sammlung, hat sie in Tel Aviv zum Gespr�ch getroffen.
Britta F�rber: Ihre k�nstlerische Praxis basiert auf dem Medium der Zeichnung, das Sie in aktuellen Werken um Installationen, Wandgem�lde wie auch Videoarbeiten erweitern. Was fasziniert Sie so an der Zeichnung?

Yifat Bezalel: Etwas quasi durch Low-Tech zu erschaffen, ist f�r mich eine Geisteshaltung. Ich geh�re zu den Menschen, die Zeit brauchen, um zu beobachten. Diese einfache T�tigkeit, speziell das Zeichnen mit dem Bleistift, hat etwas Heilendes – aber nicht im Sinne von New Age. Das Zeichnen geh�rt zu den langsamen K�nsten und bringt dir bei, deine Sinne zu sch�rfen. Der Akt an sich l�sst dich die Dinge anders sehen. In allem erkennt man die DNA des Zeichnens, ob das nun die �ste an einer Schnellstra�e sind oder Filme von Jean-Luc Godard. Zeichnen ist eine Art von Bewusstseinszustand – dabei meine ich Sehen, im Gegensatz zum blo�en Schauen.

Wann haben Sie mit dem Zeichnen begonnen? Gibt es so etwas wie eine erste Zeichnung, an die Sie sich erinnern k�nnen?  

Ich zeichnete schon als Kind. Bei uns gab es ein Gemeindezentrum, in dem Malunterricht f�r Erwachsene angeboten wurde. Ich nahm daran teil, allerdings war ich da gerade erst sieben Jahre alt. Ich erinnere mich genau an meine erste Alice-Zeichnung. Ich war damals bereits �lter. Eigentlich wollte ich ein Storyboard f�r eine Videoarbeit zeichnen, die ich im Kopf hatte. Und wie es bei der Inspiration so ist, war ich gerade bei meinen Eltern, als mir klar wurde, dass ich die Figur der Alice im Wunderland verwenden wollte. Ich hatte keinen Zeichenblock bei mir. Aber ich fand eine Medikamentenschachtel. Ich faltete sie auseinander und zeichnete auf die Innenseite. Das war meine allererste Alice.

Wie wir noch sehen werden, nimmt die Figur der Alice eine wichtige Stellung in Ihrem Werk ein. Ich w�rde gerne sp�ter darauf zur�ckkommen und zun�chst mit einer allgemeineren Frage fortfahren: Sie sind in Tel Aviv geboren, sie leben und arbeiten hier. Nat�rlich reisen Sie und sind Teil der globalen Kunstwelt. Zugleich aber scheinen Sie hier absolut verwurzelt. Wie beeinflusst „Ihr Ort“, wie sie gerne sagen, Ihre unmittelbare Umgebung Ihre Arbeit?

In Tel Aviv, in Israel zu leben, ist, als w�rde man in einer anderen Dimension existieren. Man ist umgeben von L�ndern, zu denen man keine Beziehung, kein Verh�ltnis hat. Wenn wir von Israel aus an einen anderen Ort reisen m�chten, geht das nur mit dem Flugzeug. Wir reisen und bewegen uns, ohne einen wirklichen Prozess des Reisens. Eine Minute bist du hier, in der n�chsten woanders – ohne eine bestimmte Landschaft zu durchqueren. Ich habe auch das Gef�hl, dass die Tatsache, dass du in einer permanenten Kriegszone lebst, dein Denken, deine Wellenl�nge beeinflusst. Das Traurige daran ist, dass man sich an diese Art der Wahrnehmung gew�hnt und einfach gleichg�ltig wird. Das f�llt einem auf, wenn man an einem anderen Ort ist – man sp�rt pl�tzlich so etwas wie mehr Weite zwischen den Molek�len in der Luft.

Es gibt da diese Videoarbeit von 2013, „Ha'heder (Sketch room)“, in der Sie einen Raum von oben zeigen, in dem eine K�nstlerin alleine arbeitet. Das wirkt sehr isoliert, aber zugleich ist das auch wie der perfekte White Cube. Ist dies eine Metapher f�r die Produktion und die Ausstellung Ihrer Werke? Oder geht es dort um ein grunds�tzlicheres Statement?

Es geht dort um etwas absolut Grunds�tzliches: die Einsamkeit. Auf der einen Seite braucht man sie als K�nstlerin, auf der anderen Seite ist das der t�gliche Preis, den man f�r sein Werk zahlt. Diese Arbeit bezieht sich auch auf Virginia Woolfs feministisches Essay Ein Zimmer f�r sich allein, der betont, wie notwendig es ist, als Frau einen eigenen Raum zu haben, um zu denken und etwas zu erschaffen.   

Es gibt viele architektonische Elemente in ihren Zeichnungen, die sich zu dreidimensionalen R�umen �ffnen. Zugleich dehnen sich die Zeichnungen in Ihren Installationen in den dreidimensionalen Raum aus. Was reizt Sie genau an der Architektur? Und wie inspiriert sie in abstrakter Form oder auch ganz konkret Ihr Werk?

Ich „leihe“ mir architektonische Elemente aus mehreren Gr�nden: Ich m�chte den zeichnerischen Raum im wahrsten Sinne des Wortes erweitern. Das Format meiner Zeichnungen soll sich dabei m�glichst dem Format des Kinos ann�hern. Ich glaube, das Kino, das Medium Film hat den gr��ten Einfluss auf den Betrachter – wegen der Art und Weise, wie unterschiedliche Elemente, Sound, Schnitt, Einstellungen und vieles mehr genutzt werden. Ich m�chte die Zeichnung „erwecken“, einen holographischen Raum f�r die Betrachter schaffen, den sie betreten k�nnen. Ich m�chte, dass sich die Stille in einen Klang transformiert. Wie in der Heichalot-Literatur, die sich mit dem Aufstieg in himmlische Pal�ste befasst, die den physischen heiligen Tempel nach seiner Zerst�rung ersetzen. Die mystischen Texte legen nahe, bei diesem Aufstieg das eigene Bewusstsein zu durchwandern, darum geht es haupts�chlich. Ist das nicht so etwas wie ein altert�mliches Hologramm? Die Rituale des Tempels wandeln sich zu Ritualen des Textes. Der wurde wiederum verfasst, um den Leuten beizubringen, in ihrem Herzen einen Ort f�r das G�ttliche zu bauen, anstatt Land f�r sich zu beanspruchen und sich im Geiste an dieses Land zu klammern.
 
Damit kommen wir zur�ck zur Definition des Raumes – sei er nun spirituell, idealistisch oder ganz materiell greifbar als Land. Sie zeigen Soldaten und Pferde. Zugleich nutzen sie Blattgold f�r die Hintergr�nde, das auch die Sonne oder Licht symbolisieren k�nnte. Abgesehen von der Kostbarkeit, hat Blattgold auch eine starke religi�se Symbolik. K�nnen Sie mehr �ber diese vielschichtigen, manchmal auch verst�renden Kompositionen erz�hlen?

Zun�chst: Als K�nstler verl�sst man sich h�ufig auf seine „materielle Intuition“ und kann das nicht einfach erkl�ren. F�r mich verbindet sich Gold ganz grunds�tzlich mit Anbetung. Das ist in diesen Zeiten auch eine Form des Protests. Ich glaube, dass die Teile des Bildes, die ich mit Blattgold bedecke, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wie eine Honigfalle. Es geht darum, ein sehr hartes Motiv, das vielleicht schwierig anzusehen ist, weicher zu machen. Das Gold macht es angenehmer f�r das Auge, auch wenn das Bild brutal ist. Das ist so, als ob ich das Bild in Gold verkleide. Auf eine sehr einfache Weise „hebt“ das Gold die Bilder, die ich zeichne. Zugleich bezieht sich das Gold auf das goldene Kalb, das die Israeliten schufen w�hrend Moses auf dem Berg Sinai die zehn Gebote erhielt und noch nicht mit der Botschaft Gottes zur�ckgekehrt war. Da geht es um die Frage, welche Ideen wir als g�ttlich erkl�ren.  

In Ihren j�ngeren Werken und speziell in den Titeln sehe ich sehr unterschiedliche Referenzen. An die Literatur, wie bei „No Man is an Island“, an Religion, wie bei der Videoarbeit "Tehilla", aber auch an die Pop-Kultur, etwa wenn Sie auf Aretha Franklins ber�hmten Song „I say a little Prayer“ anspielen. Und schaut man ihre Zeichentechnik an, finden sich dort auch Bez�ge zur Graffiti-Art.

Ja, das stimmt. In meiner Brust schlagen zwei Seelen. Da ist die altert�mliche, religi�se Seite, aber im gleichen Atemzug liebe ich das Leichte, die Freude. Ich nenne das meine „Mellow Pop“-Seite. Lady Gaga ber�hrt mich genauso wie religi�se Texte. Ich finde in allem Heiligkeit. In einem alten j�dischen Text hei�t es: ‚Es gibt keinen Grashalm von hier unten, der f�r ihn von da oben nicht erhaben w�re – ein Engel, der ihn rettet, ihm einen Schlag versetzt, ihm zeigt, wie man w�chst.‘

Sie haben sich selbst einmal als Alice im Wunderland beschrieben, die ins Kaninchenloch f�llt und in einer v�llig fremden, magischen Welt landet. W�rden Sie das als eine Form von Eskapismus bezeichnen? Und wenn ja, wovor fliehen Sie?

Alice erf�hrt und hinterfragt sich selbst nur w�hrend sie schl�ft. In der realen Welt hat sie durchaus k�hne Gedanken, aber sie folgt ihnen nicht. Die Kluft liegt zwischen deinen Tr�umen, deiner inneren Weisheit und der F�higkeit sie auszudr�cken, in die Realit�t umzusetzen. Ich versuche, meiner Langeweile und meinen �ngsten zu entkommen, die sich zu einem inneren Labyrinth mit starken Mauern verfestigt haben, das ich aber in einen spannenden Ort transformieren kann. Ich muss noch einmal betonen, dass f�r mich der Held in Alice im Wunderland keine Figur ist, sondern dieser Ort - das Kaninchenloch. F�r mich ist es dieser Zwischenbereich, dieser Kampf, in dem du deine Kohlen aufsammelst, in dem klaren Bewusstsein, dass dies deine Diamanten sind.

Neben Alice und Tehilla tauchen eine Menge weiblicher Protagonistinnen in Ihren Zeichnungen und Videoarbeiten auf. Ist das ein Weg f�r Sie als K�nstlerin, �ber die Rolle der Frau in der Gesellschaft, der K�nstlerin in der Kunstwelt nachzudenken? Oder ganz direkt gefragt: Sehen Sie sich als feministische K�nstlerin?

Ja, das bin ich. Ich glaube ganz fest daran, dass Frauen sich nicht ver�ndern und m�nnliche Eigenschaften annehmen m�ssen. Ich glaube im Gegenteil an weibliche Sanftheit und poetische Kraft. Das sind die gr��ten St�rken der Frauen, die v�llig gleichberechtigt neben der angeblichen m�nnlichen Vorherrschaft stehen. Ich lote diese M�glichkeiten aus, gerade weil hier in Israel M�nner und Frauen einen dreij�hrigen Wehrdienst ableisten m�ssen. Das pr�gt nat�rlich die seelischen Strukturen der Frauen und tr�gt sehr zu der Wunde bei, die hier so gegenw�rtig ist.